Armin Hackl
Vortrag: Schule der Person – ein Modell oder nur eine Vision?
am 27.09.2012 in Wien
Thesen
1. Die Schule ist in unseren Gesellschaften in einem Zustand der Verunsicherung.
- Die globalen Veränderungen verlangen veränderte Bildungskonzepte.
- Die Weiterentwicklung der gesellschaftlichen Werteprioritäten und der anthropologischen Vorstellungen (Menschenbild) ist im Raum der Schulen nur selektiv adaptiert.
- Die medialen Erfahrungen und Kompetenzen der Jugendlichen verdrängen hergebrachte Lernstrategien.
- Die öffentlich bekundete Bedeutung des Wissens (Wissensgesellschaft) entspricht nicht der öffentlich praktizierten Bedeutung von Wissen.
2. Die Begriffe Schulreform, Schulentwicklung oder Schulinnovation sind Ausdruck der Verunsicherung (nicht Krise). Die bisherigen Lösungsansätze sind häufig durch innere Widersprüche gekennzeichnet.
Ebene der Politik:
- Struktur: Einheitsschule statt Strukturdifferenzierung
- Inhalte: Kompetenzorientierung statt Bildungsprozesse
- Personal: Kostenstabilisierung (-reduzierung) statt Investition in das Personal der Schulen (Lehrpersonen)
- Organisation: Zentrale Bürokratisierung statt lokaler Verantwortungsautonomie
Ebene der Einzelschule:
- Organisation: Reform statt Entwicklung
- Lernprozesse: Methodendominanz statt Lernautonomie und Lernverantwortung
- Profil: Profilangleichung (Vereinheitlichung) statt Profildifferenz
Ebene Lehrpersonen:
- Haltung: Außenorientierung statt verantworteter Autonomie
- Zielsetzung: Fachvermittlung (harter Faktor) statt Lernbegleitung (weicher Faktor)
- Profession: Fokussierung des Berufsfelds auf den Schwerpunkt Wissensvermittlung (s. PISA) statt pädagogischer Entfaltungshilfe
Ebene Gesellschaft:
- Forderung der Chancenverwirklichung durch die Schule statt realistischer Wahrnehmung der Möglichkeiten des Kindes und der Schule
- Lösung der Probleme des Kindes und z. T. der Familie durch die Schule (Entprofessionalisierung der Familien) und Verringerung der Mitwirkungsfähigkeit bei der pädagogischen Konstruktion von Lösungen
- Einforderung einer Pädagogisierung der Schule bei gleichzeitiger Maximierung der Wissensvermittlung (Wettbewerbsdruck)
- Individuelle Wertedifferenz und Forderung erzieherischer Orientierung (s. Privatschultendenz)
3. Die Überwindung der Verunsicherung von und in den Schulen ist vor allem eine gesellschaftliche Aufgabe.
These 1: Strukturelle Lösungsversuche (Einheitsschulen usw.) führen in der Regel zu größeren Einheiten und damit zur Maximierung von innerer und äußerer Heterogenität.
These 2: Ab einer gewissen Heterogenitätsdichte in einem System wird die vorhandene Energie vornehmlich zur Bewältigung der Heterogenität und nicht zur Steigerung der Qualität benötigt.
These 3: Das Schulsystem darf kein Reproduktionssystem gesellschaftlicher Schichtung sein. Es ist aber auch kein geeignetes System zur Herstellung sozialer Gleichheit in einer Gesellschaft. Bestenfalls kann es die Entwicklung zu sozialer Gerechtigkeit in einer Wissensgesellschaft fördern.
These 4: Aufgabe der Schule ist
- die Optimierung der personalen Potenziale als Voraussetzung der Lebensbewältigung (Glück, Beziehung, Beruf usw.)
- die Herstellung einer gesellschaftlichen und kulturellen Identifikation durch Bildung
- die Einübung demokratischer Lebensgestaltungsformen (Werte, Partizipation, kritische Reflexion der Prozesse u.a.)
These 5: Bildung als kulturelle Identifikation ist mehr als anwendungsorientierte Kompetenz-vermittlung. Sie vollzieht sich in fünf Stufen der Aneignung:
Stufe 1: Lernen durch „Abrichten“ (Regeln, Fakten, Daten, Systeme): Können
Stufe 2: Beschäftigung (bewusste Kenntnis der Regeln): Metakognition
Stufe 3: Verstehen (Kenntnis der Hintergründe, Entwicklung u.a.): geistige Identität
Stufe 4: Vergleichen (Eigenheit und die Andersartigkeit, Vor- und Nachteil u.a.): Andersartigkeit und Identität
Stufe 5: Gestalten (Umgehen, Veränderung, Anpassung): Kontingenz und Toleranz
These 6: Der Schule der Zukunft werden deutlicher als dies heute der Fall ist drei Aufgabenfelder zugewiesen, denen methodische Schwerpunkte entsprechen
- Wissen und Können – informationstechnisch gestütztes Lernen (Medien)
- Aneignung und Reflexivität – diskursives Lernen (Lehrpersonen)
- Selbstwertentwicklung (Persönlichkeitsbildung) – werteorientiertes Lernen (Gemeinschaft)
These 7: Lernen und Bildung glücken besser in Lernräumen mit partizipativer, d. h. verantworteter Beteiligung am Lernprozess als in gelenkten Lernsystemen. Partizipative Beteiligung setzt z. T. offene Gestaltungsräume für das Lernen voraus. Diese können durch autonome Lernentscheidungen durch die Lehrpersonen und die Schüler gefüllt werden.
- Lehrplan: obligatorisches Wissen – fakultatives (vom Lehrer oder der Schule) bestimmtes Wissen – individuelles (vom Lernenden gewähltes) Wissen
- Leistung: Produktleistungen – Prozessleistungen – individuelle Ergänzungsleistungen
- Lernprozess: Vereinbarungen über die Lernkultur (Leistungsformen, Teilnahmever-pflichtung, Lernformen, Lernorte, Sanktionen)
- Schulkultur: Vereinbarung über die Wertepriorisierung – Anerkennungskultur – Identifikationssysteme
- Schulorganisation: Mitwirkung der Gruppen (Entscheidungstransparenz u.a.)
These 8: Pädagogische Nachhaltigkeit und Lernqualität setzen eine Verständigung über die wesentlichen Werte, die in einer Schule Gültigkeit haben sollen, voraus. Dabei sind vor allem die beiden Werte: Eigensinn und Gemeinsinn Orientierungspunkte.
Die Schule der Zukunft wird ein ausgewogenes Verhältnis zwischen „Stoff „ und den Lernenden vornehmen, d. h. sie wird einen Paradigmenwechsel von der Fokussierung auf die Sache zur Bedeutsamkeit der Person einleiten müssen, wenn sie die derzeitige Verunsicherung überwinden will.